Arbeitszeiterfassung: EuGH-Urteil
In Zukunft müssen Unternehmen die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter genau erfassen.
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Was bedeutet das für deutsche Arbeitgeber und -nehmer?
Überstunden, die nicht gezählt werden? Unbezahlte Mehrarbeit zu Hause? Das soll es in Zukunft in Europa nicht mehr geben. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden: Die EU-Staaten müssen Arbeitgeber verpflichten, jede Arbeitsstunde ihrer Mitarbeiter genau zu erfassen.
Bislang waren Arbeitgeber lediglich verpflichtet, Überstunden zu dokumentieren, also jede zusätzliche Arbeitsstunde nach acht Stunden zu erfassen.
Das soll sich künftig ändern: Alles, was die Arbeitnehmer an Arbeitszeit leisten, muss dokumentiert werden.
In der Begründung des Gerichtshofs heißt es, dass ohne ein solches System weder die Arbeitsstunden noch die Überstunden „objektiv und verlässlich ermittelt“ werden können. Für Arbeitnehmer sei es daher „äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich“, ihre Rechte durchzusetzen. -
[Quelle: Karriere SPIEGEL, 15.05.2019, https://www.spiegel.de/karriere/arbeitszeiterfassung-welche-folgen-hat-das-eugh-urteil-a-1267343.html]
Welche Folgen wird das Urteil für Arbeitnehmer haben?
Dadurch, dass schon jetzt Überstunden erfasst werden, ist die Dokumentation der regulären Arbeitszeit für Enzo Weber vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung „ein denkbar kleiner Sprung“: Die reguläre Arbeitszeit werde durch die Überstunden sowieso bereits festgestellt, sagte er der Deutschen Presseagentur. In der Praxis dürfte sich dadurch kaum etwas ändern.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sieht das anders: Schätzungen zufolge erfasst bisher jeder fünfte Arbeitnehmer seine Arbeitszeiten nicht. Für Marta Böning vom DGB ist die Entscheidung des Gerichts daher wichtig, um eine lückenhafte Regelung zu schließen. Gegenüber dem SPIEGEL erklärte sie: „Dieses Urteil ist die logische Konsequenz von bisher geltenden Regelungen: Die Arbeitszeit ist täglich auf acht Stunden begrenzt, tägliche und wöchentliche Ruhezeit müssen gewährt werden. Aber ohne die Erfassung bleibt es in manchen Branchen bei einer wirkungslosen gesetzlichen Regelung.“
Für Böning liegt die Annahme nahe: „In Unternehmen, in denen die Arbeitszeit nicht erfasst wird, wird mehr gearbeitet. Arbeit wird dann manchmal mit nach Hause genommen, ohne dass das dokumentiert wird.“
Was bedeutet das für Arbeitgeber?
Sonja Riedemann, Anwältin für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Osborne Clarke, weiß, dass die Verpflichtung zur Dokumentation für einige Arbeitgeber nun zum Problem werden könnte: „Sowohl Arbeitnehmer als auch Betriebsräte werden Überstunden und Arbeitszeitverstöße deutlich besser beweisen und Aufsichtsbehörden Verstöße im Kontrollfalle einfacher nachweisen können.“
Zur genauen Erfassung der Arbeitszeiten werden sich viele Unternehmen jetzt umstellen müssen. Ob die Stunden elektronisch oder auf dem Papier, per App oder Stechuhr festhalten werden, lässt der europäische Gerichtshof allerdings offen – sofern das System „objektiv, verlässlich und zugänglich ist“.
„Es gibt heutzutage viele einfache Möglichkeiten, die Arbeitszeiten zu erfassen, auch bei Leuten, die nicht im Büro arbeiten,“ sagt Sonja Riedemann. „Meine Empfehlung: Die Unternehmen können die Erfassung der Arbeitszeiten auch an ihre Mitarbeiter delegieren. Immerhin kennen sie ihre Arbeitszeiten am besten. Das muss dann aber regelmäßig kontrolliert werden.“
Wer profitiert von dem Urteil?
Der Europäische Gerichtshof betont in seiner Entscheidung die EU-Arbeitnehmerrechte zum Schutz der Gesundheit.
Marta Böning vom DGB glaubt, dass von dem Urteil sowohl Mitarbeiter als auch Unternehmen profitieren werden: „Wenn von Beschäftigten regelmäßig Mehrarbeit erwartet wird, sie permanent erreichbar sein müssen und unter Druck stehen, wirkt sich das auf die Gesundheit der Beschäftigten aus. Und wenn wir wollen, dass Menschen auch im späten Alter noch erwerbsfähig sind, muss an dieser Stellschraube auch im Interesse der Unternehmen gedreht werden.“
Juristin Sonja Riedemann zufolge ist das Urteil auch für die Einhaltung von Transparenz und für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen ein großer Schritt. „Wenn Arbeitszeiten genau dokumentiert werden, entfällt die Wettbewerbsverzerrung: Die schwarzen Schafe, die Arbeitnehmer mit illegalen Arbeitszeiten beschäftigen, verlieren dadurch ihre Vorteile auf dem Markt.“
Wann werden bereits jetzt schon die Arbeitszeiten systematisch erfasst?
In bestimmten Arbeitsverhältnissen, etwa bei Minijobs oder Schichtarbeit, ist es bereits Pflicht, die Arbeitszeit zu erfassen. Für Kraftfahrer oder im öffentlichen Dienst gibt es ebenfalls die Vorschrift zur Dokumentation der Arbeitsstunden.
Nicht erfasst werden die Arbeitszeiten dagegen häufig in Branchen, in denen flexibel gearbeitet und Mitarbeiter viel unterwegs sind: Das ist zum Beispiel beim Homeoffice oder bei Beratern im Außendienst der Fall.
Wie schnell kann dieses Gerichtsurteil umgesetzt werden?
Das Urteil richtet sich zunächst an die EU-Staaten und nicht direkt an die Arbeitgeber. Die einzelnen Länder müssen dann die Unternehmen verpflichten, ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.
Gewerkschafterin Marta Böning setzt allerdings darauf, dass die Firmen schon früher tätig werden: „Wir hoffen, dass die Unternehmen ihre Praxis unabhängig von einer gesetzlichen Regelung so schnell wie möglich umstellen.“